Reichlich verstrahlt

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Hagen war jahrzehntelang in Atomprojekte verwickelt – und die Geschichte ist noch nicht zu Ende

ENERVIE_Zentrale_Zufahrt_Presse_1Wahnvorstellungen waren schon immer ein integraler Bestandteil Hagener Energieunternehmen – und immer mit Rückendeckung der bestens alimentierten politischen Aufsichtsvertreter. Vom Atomwahn über den Größenwahn Ivo Grünhagens bis hin zur lächerlichen Forderung nach einer eigenen Postadresse „Platz der Impulse“. Foto: Enervie.

Zum Jahreswechsel wurden drei weitere deutsche Atomkraftwerke vom Netz genommen. Keine 24 Stunden später tischt die EU-Kommission pünktlich zum Neujahrstag in einem Entwurf die Schnapsidee auf, diese Art von Energieerzeugern weiter finanziell zu fördern – als „nachhaltige“ Anlagen.

Anlass genug, noch einmal an die Rolle Hagener Energiekonzerne samt ihrer politisch besetzten Aufsichtsgremien in der Geschichte der Atomkraft zu erinnern, die endlich in diesem Land zu Ende geht. Die Frage der Entsorgung des stahlenden Mülls ist allerdings bis heute ungelöst – und es könnten noch hohe Kosten auf die Stadt bzw. die Stromverbraucher zukommen.

Die frühen Jahre

Es war die Zeit des Kalten Krieges. Von regierungsamtlicher Seite wurde den Menschen erzählt, gegen die Folgen einer Atombombe könne man sich mit einer Aktentasche über dem Kopf schützen. Da lag es nahe, auch an eine „friedliche“ Nutzung der Kernenergie zu glauben.

In diesen Jahren, genau 1959, erreichte der „Fortschritt“ auch Hagen. Das Kommunale Elektrizitätswerk Mark, besser bekannt als Elektromark und ein Vorläufer der Enervie, gründete gemeinsam mit 14 anderen Energieunternehmen die Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor (AVR).

Die Anlage steht in Jülich unmittelbar neben dem Gelände des Forschungszentrums und wurde von 1966 bis 1988 betrieben. Es traten mehrere Pannen und Störfälle auf, Kritiker sehen Indizien, dass der Reaktor sogar havariert ist. Der AVR-Betrieb und mögliche Gefährdungen beim Betrieb wurden 2011 bis 2014 von externen Experten untersucht; laut Abschlussbericht vom April 2014 gab es gravierende verheimlichte Probleme und Fehlverhalten.

Der Rückbau des AVR gilt als außergewöhnlich schwierig, langwierig und teuer. Aber Elektromark bzw. Rechtsnachfolger Enervie hatten viel Glück.

Da die Betreiber sich überfordert zeigten, werden Rückbau und Entsorgung von staatlichen Stellen in Auftrag gegeben und bezahlt. 2003 wurde die öffentliche Hand auch formal Eigentümer des AVR und seines Atommülls. Damit waren die Hagener finanziell aus dem Schneider.

Im Januar 1968 wurden beim Bau des AKW Würgassen erste Proteste gegen Atomkraftwerke laut. Ein SPD-Politiker namens Prof. Karl Bechert forderte: „Die Bevölkerung muss aufstehen wie ein Mann.“ Das hinderte die Elektromark allerdings nicht daran, in das nächste Atomabenteuer einzusteigen.

Der erste Versuch in Hamm

Nach der Ölkrise im Jahr 1973 warb Elektromark-Vorstand Hecker weiter für die Nutzung der Atomkraft.  Das war das Jahr, in dem 500 Traktoren durch den Kaiserstuhl rollten und die Bevölkerung alarmiert war: In Wyhl, mitten im Weinanbaugebiet, war ein Atomkraftwerk geplant.

Hecker argumentierte auf der Hauptversammlung gegenüber den Aktionären, die Elektromark fühle sich als Stromerzeuger durch den von der Bundesregierung angestrebten Ausbau der Kernenergie in der Pflicht – so der Geschäftsbericht – „weil nach dem heutigen Stand der Technik die Kernenergie ihren wachsenden Beitrag zur Energieversorgung nur über die Umsetzung in elektrische Energie leisten kann.“

1975 gründete Elektromark gemeinsam mit den Vereinigten Elektrizitätswerken (VEW) die Kernkraftwerk Hamm GmbH, um einen 1300-MV-Druckwasserreaktor zu bauen. Elektromark hielt an der Gesellschaft einen Anteil von 26 Prozent, das bis dato größte Finanzvolumen für ein Einzelprojekt des Energieversorgers.

Aber die Genehmigung kam nicht so recht voran. Die Elektromark machte dafür „die Einstellung der Landesregierung“ verantwortlich, die von der SPD geführt wurde. Also wich man nach Niedersachsen aus, wo unter der CDU-Regierung des Ministerpräsidenten Ernst Albrecht ein atomgünstigeres Klima herrschte.

Abenteuer im Emsland

1982 wurde die Kernkraftwerke Lippe-Ems GmbH gegründet, im April 1988 ging das AKW Emsland ans Netz. Elektromark hielt eine Beteiligung von 25 Prozent und hatte sich damit wirtschaftlich verhoben, zu viel Kapital war ans Atom gebunden.

Daher beschloss der Aufsichtsrat im Dezember 1993 einschneidende Maßnahmen zur Umstrukturierung des Unternehmens. Dazu gehörte vor allem der Verkauf der Beteiligung am AKW Emsland. Damit waren auch die Kosten für Stilllegung und Entsorgung des Meilers vom Tisch.

In der Folge wurden RWE und VEW mit 20 Prozent des Aktienkapitals Anteilseigner des Hagener Energieversorgers. Möglich wurde diese Veränderung, weil die Stadt Hagen einen Teil ihrer Aktien verkaufte.

Bio-Atomkraft aus regionalem Anbau

Aber die Hagener hatten noch ein weiteres Eisen im atomaren Feuer. 1968 hatten Elektrizitätsunternehmen in Hagen (!) die Hochtemperatur-Kernkraftwerks-GmbH (HKG) gegründet, die einen 300 MW-Reaktor bauen und betreiben sollte. Die Muttergesellschaften waren mittelgroße und kleinere regionale Elektrizitätsversorger, darunter die damalige Elektromark, eine der beiden Vorläufer der heutigen Mark-E.

„Die Befürworter der neuen Technologie sprachen so, als werde hier quasi Bio-Atomkraft aus regionalem Anbau produziert“, beschrieb einmal die Süddeutsche Zeitung die Stimmungslage der damaligen Zeit.

Im Mai 1971 wurde die erste Teilerrichtungsgenehmigung erteilt und im November 1985 wurde der „THTR 300“ genannte Reaktor in Hamm-Uentrop im Betrieb genommen. Das Glück währte allerdings nicht lange: Nach nur 423 Betriebstagen wurde der THTR wegen „Kinderkrankheiten“ vom Netz genommen und 1989 endgültig stillgelegt.

Die Baukosten des THTR wurden 1968 auf 300 – 350 Millionen D-Mark taxiert, zum Zeitpunkt des Baubeginns 1971 waren es schon 690 Millionen und am Ende wurden es dann 4 Milliarden D-Mark, was etwa 2,045 Mrd. Euro entspricht.

Bereits während der Inbetriebnahmephase traten so viele Probleme auf, dass die Stadtwerke Bremen ihren Anteil am THTR zum symbolischen Preis von einer DM an den damaligen HKG-Hauptgesellschafter Vereinigte Elektrizitätswerke Westfalen (VEW) abgaben, um dem Haftungsrisiko zu entgehen.

Während einer Stillstandsphase ab September 1988 wegen gebrochener Haltebolzen in der Heißgasleitung übermittelte die HKG Ende November 1988 ein „vorsorgliches Stilllegungsbegehren“ an Bundes- und NRW-Landesregierung, um auf ihre prekäre finanzielle Lage aufmerksam zu machen. Die Bremer hatten also noch rechtzeitig den Absprung geschafft, denn anders als prognostiziert hatte sich der Betrieb des THTR als hochdefizitär herausgestellt und die finanziellen Reserven der HKG waren weitgehend aufgebraucht.

Ohne dauerhafte Lösung dieser finanziellen Probleme sah die Aufsichtsbehörde die Voraussetzungen für einen THTR-Weiterbetrieb nicht mehr als gegeben an, und der Reaktor blieb abgeschaltet. Im Sommer 1989 geriet die HKG dann an den Rand der Insolvenz und musste, da die Muttergesellschaften der HKG ohne höhere staatliche Zuschüsse keine weiteren Zahlungen leisten wollten, durch die Bundesregierung mit 92 Mio. DM und das Land NRW mit 65 Mio. DM gestützt werden.

Die Ruine könnte für Hagen noch teuer werden

Der Reaktor selbst wurde bis 1997 in den sogenannten „sicheren Einschluss“ überführt und verursacht weiter Kosten in Höhe von 6,5 Mio. Euro jährlich. Die HKG (heute nur noch zwei Beschäftigte – aber drei Geschäftsführer!) beziffert die Kosten für Stillegung und „sicheren Einschluss“ bis Ende 2009 auf insgesamt 425 Millionen Euro.

Die Aufwendungen für Demontage und Entsorgung des strahlenden Schrotts werden inzwischen auf 1 Milliarde Euro taxiert. Ohne die Kosten der Endlagerung wohlgemerkt. In einer Studie der Hertie School of Governance von 2015 wird der THTR zu den grössten Fehlentwicklungen bei deutschen Projekten der vergangenen 55 Jahre gezählt.

Dank großzügiger Förderung durch Bund und Land mussten die Anteilseigner der Betreibergesellschaft nur gut 8 Prozent der Baukosten aufbringen. Bei Stillegung und Einschluss waren sie schon mit einem Drittel der Kosten beteiligt. Die Verteilung beim Abriss steht völlig in den Sternen.

Sollten die Kosten vollständig von der HKG getragen werden müssen, entfielen auf die Hagener Enervie gemäß ihres Anteils 260 Millionen Euro. In 2012 verfügte die HKG nur noch über Eigenmittel von 41,5 Mio €. Inzwischen sind auch die aufgebraucht. Aber – es waren Cleverles am Werk: Wegen der Rechtsform als GmbH soll eine Durchgriffshaftung auf die HKG-Gesellschafter zur Deckung der Entsorgungskosten nicht möglich sein, sodass die Kostenübernahme ungeklärt ist.

Enervie spielt die Risiken im gewohnten Stil herunter: Im Geschäftsbericht 2013 (ein neuerer ist nicht auffindbar – auch bezeichnend) firmiert die HKG nur als „Unternehmen (…) untergeordneter Bedeutung“ gemäß § 311 Absatz 2 HGB. Danach muss eine Beteiligung an einem assoziierten Unternehmen nicht in den Konzernabschluss einbezogen werden, „wenn die Beteiligung für die Vermittlung eines den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Konzerns von untergeordneter Bedeutung ist.“

Ein klassisches Schlupfloch für Bilanzakrobaten, denn der Absatz 1 desselben Paragraphen schreibt eigentlich die Miteinbeziehung bei „maßgeblichem Einfluss“ vor: „Ein maßgeblicher Einfluss wird vermutet, wenn ein Unternehmen bei einem anderen Unternehmen mindestens den fünften Teil der Stimmrechte der Gesellschafter innehat.“ Enervie hat mit 26 Prozent mehr als ein Viertel und überschreitet damit sogar die Sperrminorität von 25 Prozent.

Bei Enervie baut man offenbar darauf, das Problem einfach auszusitzen; die heutige Generation der Manager und politisch Verantwortlichen wird dann, wenn es zum (finanziellen) Schwur kommt, schon den Ruhestand genießen. Motto: Nach mir die Sintflut.

Denn frühestens 2027, nach teilweisem Abklingen der Radioaktivität, kann endgültig mit dem Abriss begonnen werden. Dafür werden etwa 20 Jahre veranschlagt. Die Endabrechnung erfolgt also 2047 – 58 Jahre nach der Stillegung.

2 Antworten to “Reichlich verstrahlt”

  1. W. Poth Says:

    Danke für diesen ausgezeichneten Überblick.

  2. Umleitung: Corona-Desinformation, Don’t look up!, China, Atomenergie, Überleben und Überstehen, jüdische Friedhöfe, Podcast-Studio, beste Wünsche für 2022 und ein kalter Bahnsteig. – zoom Says:

    […] Reichlich verstrahlt: Hagen war jahrzehntelang in Atomprojekte verwickelt – und die Geschichte ist noch nicht zu Ende … doppelwacholder […]

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