Urbaner, als die Polizei erlaubt

by

Haspe – der Maggi, das Gold und die Stadtrechte

von Dr. Detlef Vonde*

Niederhaspe_um_1910Bahnübergang Niederhaspe mit Hüttenwerk im Hintergrund. Historische Ansichtskarte um 1910.

Irgendwo zwischen Dortmund (Fußball und Bier), Schwelm (Kreisstadt und einst auch mal Bier) und Hagen (Popstars, aber kein Bier) liegt Haspe. Dieses ehemalige Industriedorf an der Ennepe wurde im 19. Jahrhundert über die regionalen Grenzen hinaus bekannt durch seinen rapiden industriellen Aufschwung  im Allgemeinen und sein Hüttenwerk im Besonderen, das noch bis Anfang der 1970er Jahre in Betrieb war und zu festgelegten Zeiten Dampf abließ: goldgelbe Wolken aus der Thomasbirne färbten dann den Himmel der Gegend ringsum.

Das Werk emittierte, was die Schornsteine hergaben. Die leidgeprüften Leute nannten es liebevoll angewidert Hasper Gold und reagierten im Alltag routiniert: sie hängten rechtzeitig die Wäsche ab. Viel mehr blieb ihnen auch nicht.

Im ganzen Land bekannt wurde Haspe im Laufe seiner Geschichte auch durch einen Zwieback, der auf seiner markanten Frischhaltetüte ein wohlgenährtes Kleinkind zum feisten Wohlstandslächeln brachte: Brandt, lange Zeit ein Marktführer für süße Backwaren und vorübergehender Hauptsponsor eines früher erfolgreichen Hagener Basketballvereins.

Als der Zwieback-Produzent schließlich pünktlich zum Millennium den Standort aufgab und der fürstlichen Förderung wegen gen Ostdeutschland zog (O-Ton NRW-Ministerpräsident Clement: Subventionsschwindel), hinterließ er vor Ort die übliche Tristesse abgewickelter Produktionsstandorte, die schon Jahrzehnte lang keine Investition mehr gesehen hatten, mit prägnanten Straßenbrücken und lost places an der Peripherie.

Es ist nicht überliefert, ob die Freunde der magenfreundlichen lokalen Süßspeisen dazu ein lokales Bier aus dem Tal des Hasperbaches tranken, das zwar den volkstümlichen Namen Andreas auf dem Etikett führte, dessen Qualität aber als relativ umstritten galt, obwohl es über einen begrenzten Vertrieb immerhin die Kundschaft bis ins tiefste Sauerland erreicht haben soll.

Zum Pils trank man – dem gesicherten Vernehmen nach – einen 46%igen Wachholderschnaps, den die Einheimischen angeblich aus Geruchsgründen beim Wasserlassen auch gern Hasper Maggi nannten, womit das Wichtigste auch schon gesagt ist. Siehe oben.

Eigentlich also wäre dieser heutige Vorort von Hagen, das sich selbst aus Tradition gern das extrabreite Prädikat Tor zum Sauerland anheftet, kaum einer Rede wert, wenn sich nicht in genau diesem Haspe im 19. Jahrhundert ein heute weithin vergessener Pionierdienst in Sachen Urbanisierung ereignet hätte. Zeitsprung also in die frühen 1870er Jahre.

Die ehemals beschauliche Gemeinde Haspe und ihre Bauernschaften ringsum, die seinerzeit von der verkehrsgünstigen Lage an der neuen Bergisch-Märkischen Eisenbahn profitierten, hatte bis dahin einen erheblichen wirtschaftlichen Aufschwung erfahren. Getragen von der Euphorie dieses offenbar anhaltenden Erfolges hatten damals die funktionalen Eliten der Gemeinde mit Blick auf das erstaunliche Bevölkerungswachstum, den Bergbau und die prosperierende lokale Eisenindustrie (Markana und Hasper Hütte) den optimistischen Antrag gestellt, zeitnah zur Stadt erhoben zu werden.

Bis dahin wurde der Ort nach der geltenden westfälischen Landgemeindeordnung verwaltet, unterstand also dem Hagener Landrat als unterste staatliche Aufsichtsbehörde. Kein Wunder also, dass der verunsicherte Staatsbeamte Widerspruch anmeldete, als die Arnsberger Bezirksregierung die Berechtigung dieses Antrags auf Stadterhebung unterstrichen und damit den Weg für einen allerhöchsten Erlass vom 20.12.1873 freimachte, der dem Dorf Haspe die Stadtrechte verliehen und zugleich die Genehmigung erteilt hatte, künftig auf dem Provinziallandtag im Stande der Städte vertreten zu sein. (…)

Die Hasper und Oberhausener Stadterhebung Anfang der 1870er Jahre  hätten zugleich auch Präzedenzfälle für das staatliche Verhalten im künftig rasanten Urbanisierungsprozess darstellen können. Das aber war ein ziemlicher Trugschluss, wie sich bald herausstellen sollte; denn das Ruhrgebiet, wozu man auch den Raum entlang seiner Nebenflüsse wie der Ennepe zählen konnte, entwickelte sich geradezu explosionsartig und wurde schließlich deutlich urbaner, als es die Polizey erlaubte. (…)

Außer an Maloche über und unter Tage fehlte es in diesen kuriosen Landgemeinden unter schwarzem (oder goldgelbem) Himmel buchstäblich an allem, was in der Zeit der Hochindustrialisierung als urbanes Leben bezeichnet werden konnte. Solche rapide wachsendenden Arbeiterdörfer verfügten weder über verdichtete Bebauung, gepflasterte Straßen, Kanalisation, gesichert sauberes Trinkwasser, medizinische Versorgung, kulturelle Einrichtungen, ausreichend Schulen, noch nicht einmal über nennenswert viele Kneipen,  geschweige denn über gepflegte Bürgersteige. (…)

Der fortschreitende Urbanisierungsprozess im Ruhrgebiet sorgte also in immer kürzeren Zeittakten für die Entstehung neuer Gemeinwesen, deren besonderes Merkmal die Dominanz eines hochmobilen, modernen Industrieproletariates war. In der Perspektive des preußischen Obrigkeitsstaates war durch diese Entwicklung innerhalb von drei Jahrzehnten die sensible Frage gestellt, wie man es denn angesichts dieser Tatsache mit der kommunalen Selbstverwaltung solcher Industriedörfer halten wollte. Schließlich ging es prinzipiell um nicht weniger als um die Urbanisierung eines ganzen Staates.

Wollte man den expandierenden Arbeitergemeinden an Emscher, Ennepe und Ruhr tatsächlich Stadtrechte verleihen, so hätte dies ganz explizit bedeutet: potenzielle Arbeiterselbstverwaltung. Was die staatlichen Instanzen (Landräte, Regierungspräsidenten, Innenminister) aber unter dem Begriff Stadt eigentlich verstehen wollten, ging exemplarisch aus ihren Stellungnahmen und Entscheidungen zu den Stadtrechtsersuchen dieser Gemeinden hervor, die einen wertvollen Quellenbestand zur Geschichte der Urbanisierung abgeben.

Zum Beispiel in der Sache Haspe. Auf das Immediatgesuch von 1872 reagierte die unterste staatliche Behörde, der Hagener Landrat Reinhard von Hymmen, in bewährt bürokratischer Manier: dilatorische Behandlung oder mit anderen Worten nachrangige Bearbeitung oder noch anders formuliert: durch Aussitzen.

Es bedurfte zahlreicher Ermahnungen durch den Arnsberger Regierungspräsidenten von Holtzbrinck bis dieser im April endlich eine Stellungnahme auf dem Schreibtisch fand. Amtsvertretung und Kreistag hatten dem Hasper Antrag bereits mit großer Mehrheit zugestimmt, der Landrat aber hielt dagegen. (…)

Insbesondere aber habe sich in der kurzen Zeit des Aufschwungs in Haspe noch kein städtisches Bürgertum bilden können. (…)

Damit war – neben der geschlossenen Bebauung – ein zweites Kriterium in Sachen Stadtqualität benannt: die Konsolidierung einer bürgerlichen Gesellschaft, deren Präsenz gegenüber der dominierenden Arbeiterbevölkerung und ihre politische Verankerung im Dorf.

In metaphorischer Wendung sollte die Reife der Gemeinde über Erfolg oder Misserfolg ihrer Stadtrechtsersuchen entscheiden. Gemeint war insbesondere die politische Zuverlässigkeit der für die Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben als strategisch angesehenen bürgerlichen Dorfeliten. Der Hasper Honoratiorenzirkel aber war dem Landrat offenbar suspekt. (…)

Was der eifrige Landrat hier in gespreizter Syntax etwas umständlich zum Besten gab, war nicht weniger als ein Misstrauensvotum gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft im Industriedorf Haspe. Seine Kritik an den Verhältnissen unterstreicht zugleich die politische Bedeutung eines angestammten, ausreichend präsenten und zuverlässigen Bürgertums, das die Delegation staatlicher Kompetenzen als spezifische Form der preußischen Variante kommunaler Selbstverwaltungsrechte durch Loyalität dankte. Wie die Gemeinde die nach den Vorgaben der Städteordnung notwendigen 24 Stadtverordneten stellen wollte, überschritt dessen Vorstellungskraft. (…)

Zum Glück blickten Regierungspräsidium und Innenministerium anders auf den Hasper Antrag, den sie schließlich positiv beschieden. In Arnsberg argumentierte man optimistisch entlang der ökonomischen Perspektive, aus der sich die Erwartung einer gewünschten Konsolidierung der Verhältnisse im aufstrebenden Industriedorf ableiten ließe. (…)

Aus dem Arbeiterdorf Haspe wurde zu Weihnachten 1873 eine Stadt: Geschenk und Glück, zumindest für den kleinen Kreis der nach dem Drei-Klassen-Wahlrecht Privilegierten der damals knapp 10.000 Einwohner*innen und Pech für die sogenannten bäuerlichen Meistbegüterten, die als Grundbesitzer ihrer Erbhöfe im künftigen Stadtrat verlustig gingen. (…)

Tat­säch­lich la­vier­te die Ruhr­ge­biets­po­li­tik des preu­ßi­schen Staa­tes seit den gro­ßen Streiks am En­de der 1880er Jah­re zwi­schen Ra­di­ka­len­pho­bie und De­sta­bi­li­sie­rungs­ängs­ten. Die Konsequenz: künftig setzte man auf eine eben­so re­pres­si­ve wie straf­fe Po­li­zei­auf­sich­t über die wu­chern­den Dör­fer in Preu­ßens wildem Wes­ten.  (…)

* Der Autor ist gebürtiger Hagener (*1954) und promovierter Historiker. Von 1981 bis 1986 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Lehrgebiet Neuere Geschichte der Fernuniversität Hagen, von 1986 bis 2020 Fachbereichsleiter für Politik, Geschichte, Umwelt an der Bergischen VHS Solingen/Wuppertal.

Der Text wurde freundlicherweise vom Autor zur Verfügung gestellt und ist ungekürzt hier zu finden.

2 Antworten to “Urbaner, als die Polizei erlaubt”

  1. Benny Says:

    Haspe auch Bier —> Andreas Pils

Hinterlasse einen Kommentar