Ein Zukunftsheimatmärchen
von Christoph Rösner
Den Bewohnern jener Stadt zwischen Ruhrgebiet und Sauerland, von der hier Zeugnis abgelegt werden soll, ging es schon sehr lange sehr schlecht.
Sie waren längst müde geworden, ihre Sorgen, ihre Kritik und ihre Wünsche an ihre Heimatstadt in die verkleisterten Ohren der Offiziellen zu schreien. Vielen war die Stadt der überdimensionierten Pläne, des Realitätsverlustes und der gebetsmühlenhaften Beteuerungen auf eine bessere Zukunft kein Zuhause mehr. Die Identifizierung mit ihrer Stadt bereitete Kopfschmerzen allenthalben. Eine milliardenschwere Schuldenlast tat ihr Übriges.
Selbst die durchaus reizvolle, waldreiche Landschaft, die unsere Stadt wie sanft ansteigende Wände einer gigantischen Salatschüssel begrenzte, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie im Laufe der Jahre des Parteienfilzes und grenzenloser Dummheit zum Hort für Dilettanten, Untergangsverwalter und eine deprimierte Bürgerschaft verkommen war.
Kunst und Kultur waren, bis auf wenige, kaum erwähnenswerte Ausnahmen, zur Marginalie verkommen. Das ehemals leuchtende Dreisparten-Theater hatte man zur profanen Spielstätte mit durchaus niedrigem Niveau degradiert, das nur unterboten wurde, wenn zur Weihnachtszeit ein abgehalftertes Helene Fischer-Double das deutsche und internationale Weihnachtsliedgut in die überfüllten Sitzreihen erbrach.
Gastronomisch galt die Stadt als Franchise-Brache. Ein Titel, der ihr immer und überall vorauseilte. Zu wenig, zu teuer, zu schlecht. Diese Attribute, die während der vergangenen fünfundzwanzig Jahre unveränderlich im Volksmund kursierten, waren derart in Stein gemeißelt, dass erfolgversprechende Neuansiedlungen so gut wie unterblieben. Das Gegenteil war der Fall: alteingesessene Unternehmen verließen das sinkende Schiff. Nur die Ratten vermehrten sich prächtig.
Der Ruf der Stadt, und nicht nur der Gastronomische, ließ weit über ihre Grenzen hinaus die Mundwinkel fallen. Kurz: in der Stadt herrschte eine merkwürdige Mischung aus veröffentlichter Aufbruchsstimmung und tiefer, verinnerlichter Resignation.
Sowohl kommunale, als auch private Verantwortliche waren allesamt ehrenwerte Menschen, denen Böswilligkeit oder andere Untugenden durchaus nicht unterstellt werden durften. Sie hatten erstaunliche Fähigkeiten in der Selbstversorgung, der Mittelverschwendung und der Stadtteilvermüllung entwickelt, nur zum Denken, Planen und kreativen Handeln waren sie nicht zu gebrauchen.
Niemand wunderte es, dass den meisten von ihnen das Mitfühlen, das Fantasieren und Mitreißen derart schwer fiel, dass sie es schon seit Jahren nicht mehr praktizierten, während alle anderen verzweifelten.
Und so setzte pünktlich zum Wochenende eine Reisewelle in die umliegenden, tatsächlich nicht schöneren, aber irgendwie attraktiveren Städte ein. Zurück blieb eine halb verwaiste Stadt, leidend an der eigenen tragischen Selbstzerfleischung bis zum nächsten Montag.
Erst eine unwirkliche, historisch einzigartige Naturkatastrophe beendete diesen bedauernswerten Zustand. Ihr verdankte die Stadt an der Vau eine neue Identität, die ihre Bürger wie ein himmlisches Geschenk in Empfang genommen hatten.
Zwar war der für 2012 von den Maya vorhergesagte Weltuntergang ausgeblieben, und auch die Menschen in unserer Stadt, denen ihre letzte diffuse Hoffnung durch das Ausbleiben genommen worden war, atmeten wieder flacher, gingen ernüchtert und enttäuscht ihren täglichen Pflichten nach.
Bis zu jenem denkwürdigen Tag im Jahr 2020, von dem hier Zeugnis abgelegt werden soll.
Im Spätsommer besagten Jahres begab es sich, dass dem Klimawandel geschuldete widrige Wetterverhältnisse und das definitiv falsche Gutachten eines Arnsberger Geologen eine innige und schöpferische Verbindung eingingen.
Eine gewittrige Regenfront, vom Deutschen Wetterdienst auf den Namen Eriko getauft, hatte ihre Attacken gegen das Land genau über unserer Stadt abgeblasen und lagerte nun unverrückbar für mehrere Wochen über den bewaldeten Erhebungen, die wie ein Ringwall die Stadt umschlossen.
Hier nun entledigte sich Eriko ihrer Wassermassen, die unerschöpflich niederprasselten. Zur gleichen Zeit, die genaue Ursache konnte nie ermittelt werden, stürzte im Bereich des Rathauses die Decke einer gigantischen, bis dahin unbekannten, unterirdischen Kaverne unter der Last des Wassers und des bereits erwähnten, völlig falschen Arnsberger Gutachtens ein. Ein weit verzweigtes System ebenfalls unterirdischer und ebenfalls völlig unbekannter Wasseradern bündelte hierauf seine ganze Kraft und erbrach sich hungrig und gurgelnd ans Tageslicht. Solche Wassermassen von oben und von unten waren für das Abwassersystem unserer Stadt nicht zu verkraften. Das Oberzentrum soff ab, langsam aber stetig.
Und wie erging es den Menschen? Euphorisiert, ja, freudig erregt fügten sie sich ohne sichtbare Anzeichen von Panik oder gar Angst in ihr unvermeidliches Schicksal.
Man glaubte, Nostradamus oder die Maya oder wer auch immer habe doch Recht behalten. Nur in der lokalen Ausdehnung der Prophezeiung sei wer auch immer einem Irrtum aufgesessen. Man verzieh wem auch immer gnädig und nachträglich.
Zuerst wurde die Innenstadt geflutet. Die wunderschönen Nachkriegsfassaden im Stil der fünfziger- und sechziger Jahre, die reizenden Krempel- und Handyshops sowie sämtliche aparten Schnellfresstempel versanken zuerst in den schmutzigbraunen Fluten.
Mit ihnen das miserable Preis-Leistungs-Verhältnis, die üblen Weißweine und die seltenen, meist unterirdischen Speisenangebote.
Die Vau, das ehemals malerische Flüßchen, an deren romantisch betonierten Auen und verzauberten Reißbrettwindungen sich traditionsgemäß niemals Verliebte ausprobiert hatten, entledigte sich ihres Betonkorsetts und riss alles Bewegliche mit sich, um es irgendwo im Umland abzuliefern.
Die Stadt, die nie ein Boot in seinem Element gesehen hatte, war plötzlich bevölkert von einer Armada kleiner und größerer Wasserfahrzeuge, und niemand fand eine Erklärung für ihr plötzliches Auftauchen. Die Menschen paddelten, ruderten oder schipperten mit einem Lied auf den Lippen ihre Habseligkeiten aus dem Bereich der akuten Bedrohung. Und das Wasser stieg weiter und weiter. Bald waren auch die angrenzenden, höher gelegenen Stadtteile überflutet, und nach mehr als drei Wochen war der Ort zur Gänze in den denkwürdigen Fluten verschwunden. Und er blieb es.
Entgegen allen Expertenmeinungen, auch jenen aus Arnsberg, floss das neu entstandene, von seinen freudig verdutzten Anrainern eilig in ‚Vausee‘ getaufte Binnengewässer, nicht ab. Und schon in den ersten Sonnenstrahlen der postsintflutlichen Tage prangten unerwartete Graffitti-Botschaften herab von den drei Türmen, die wie Mahnmale die östlichen Eckpunkte des Sees markierten. Es waren keine Hilfeschreie, keine Stoßgebete, wie sie zu erwarten gewesen wären.
„Hier bleibe ich!“, stand dort zu lesen, „Dass mir ja keiner den Stöpsel zieht!“ oder „God was here.“
Die Zeit der langen Gesichter war vorbei. Lächeln und Freude waren zurückgekehrt in die Mienen und Seelen der unerfahrenen Seeanwohner.
Tote und Verletzte waren nicht zu beklagen gewesen. Sogar der Stadtrat, der in einer seiner ungezählten nicht-öffentlichen Sitzungen von der Katastrophe überrascht wurde, konnte sich vollzählig retten.
Die Heimatverbundenen investierten die Mittel, die ihnen schnell und unbürokratisch aus Berlin zugeflossen und siedelten sich am Rande des Vausees an. Sie errichteten architektonisch ästhetische Wohn- und Geschäftshäuser, brachten in gemeinsamer Anstrengung eine Uferpromenade zustande, die wie eine schimmernde Schlange in der Sonne sanft den neuen See umfing. Autos und LKW mussten laut einstimmigem Ratsbeschluss in öffentlicher Sitzung – die nicht-öffentlichen waren in einer nicht-öffentlichen Sitzung einstimmig abgeschafft worden – Neuhagen am Vausee, so der bei einem historischen Gründungsfest verkündete Name unserer Stadt, das Gebiet weiträumig umfahren. Bepflanzte Plätze und blühende Einkaufsstraßen waren ausschließlich den Menschen vorbehalten. Und nach einer historisch einzigartig kurzen Zeit des Wiederaufbaus versammelten sich die stolzen Bürger in den unzähligen, von privaten Betreibern betriebenen Cafés und Restaurants, die, einer Perlenkette gleich, wie durch Zauberhand nach nur einem Jahr die Promenade säumten.
Künstler aller Sparten kamen, blieben und verschönerten die Stadt. Zeitungsmacher gedachten ihrer abgesoffenen Redaktionsräume und verschrieben sich einem längst vergessenen, fairen und glaubhaften Journalismus. Das Theater, wieder errichtet in Ufernähe und mit reichlich Mitteln ausgestattet, mauserte sich binnen kürzester Zeit zu einem weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannten und geschätzten E – und U-Tempel, die ehemalige Fernuniversität, mit der die Stadt vergeblich geworben hatte, wurde in eine Präsenzuni umgewandelt, die Steuereinnahmen sprudelten, Zuwanderer siedelten sich zuhauf an, und in den Nachbarstädten fielen die Bierleitungen trocken.
Niemand trauerte um die alte, versunkene Stadt an der Vau. Die Einwohner waren regelrecht verliebt in ihre neue Stadt. Gastfreundschaft wurde groß geschrieben. Aus dem ganzen Land strömte qualifiziertes Servicepersonal nach Neuhagen, das sich liebevoll einheimischen wie zugereisten Gästen widmete, die plötzlich zahlreich und neugierig die einladende Flaniermeile am See bevölkerten.
Dem neuen Vausee verdankte die alte, tief in der Seele zerrissene, identitätslose Stadt, deren Reste auf dem Grund des Gewässers vermoderten, ihren neuen Ruf als lebenswerter Flecken mit Charakter und Charme.
Nur bei Niedrigwasser ragt noch heute gläsern schimmernd aus der Mitte des Sees die vieleckige Plattform des historischen Rathausturms samt Fahnenmast, die während der heißen Sommermonate den kleinen und großen Wasserratten als Badeinsel dient. Ab und an, so erzählt man sich in alten Überlieferungen aus einer traurigen Zeit, sollen noch heute rot lackierte Esel und der metallische, unvollständige Schriftzug „Volmegale“, den manche zu Galerie, andere zu Galeere vervollständigen, vom Grund herauf an die Oberfläche steigen und dort für kurze Zeit verharren, bevor sie erneut hinabsinken in das wässrige Labyrinth am Boden des Vausees.
In seltenen, mondhellen Sommernächten, wenn der Pegel seinen niedrigsten Stand erreicht hat, gibt der See den Aufbau des ehemaligen Arbeitsamtes frei. Dann fahren die Neustädter mit ihren Booten hinaus auf den Vausee, um im Schein ihrer zahlreich mitgebrachten Scheinwerfer einem einzigartigen Spektakel beizuwohnen.
Tief unten, in den Schluchten der versunkenen Stadt, sollen, so die Legende, ein ehemaliger Baudezernent, ein Kämmerer und der letzte Oberbürgermeister auf dem lächerlichsten Kreisverkehr aus vergangenen Tagen, ehemals Ecke Konkordia/ Bergstraße, ihre ewigen Runden drehen.
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