Der Streit um das Deserteursdenkmal in Hagen 1995
„Wir brauchen so etwas nicht.“
Dietmar Thieser, damals Oberbürgermeister
1995, fünfzig Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und neun Jahre nach der Errichtung des ersten Deserteursdenkmals in Bremen, entstand in Hagen eine Initiative zum Bau eines Denkmals, die maßgeblich vom Verein Friedenszeichen getragen wurde. Das Mahnmal sollte außerdem an eine weitere ausgeschlossene Opfergruppe, die ausländischen Zwangsarbeiter, erinnern.
Der Verein beantragte 1996 aus Anlass des Stadtjubiläums bei der Bezirksvertretung Mitte die Errichtung eines Mahnmals, das durch Spenden finanziert werden sollte. Als Aufstellungsort war eine Stelle in der Nähe des Denkmals für die Hagener Kriegsgefangenen von 1955 im Volkspark vorgesehen. Die Inschrift sollte lauten:
„Die Menschen dieser Stadt gedenken der von den Nazis ermordeten Deserteure und Zwangsarbeiter, ehren die Hagener Frauen und Männer, die sich dem Naziterror nicht beugten, werden gemahnt, Menschlichkeit gegen Unrecht zu setzen.“
Bezirksbürgermeister Jürgen Glaeser (CDU) bezeichnete den Text als Provokation und erklärte, es sei ja schließlich nicht so, daß der Soldat, der seine Knochen hingehalten und seine Waffe nicht weggeworfen habe, deshalb ein überzeugter Anhänger des Systems gewesen sei. Er habe vielmehr in Verantwortung für seine Gemeinschaft gehandelt.
Ein Deserteur indes schließe sich selbst aus der Gemeinschaft aus, vertrete gewissermaßen einen Ohne-mich-Standpunkt. Außerdem seien Schmierereien von Rechtsradikalen zu befürchten. Die Entscheidung wurde dem Rat der Stadt Hagen überlassen.
Ruth Sauerwein (Verein Hagener Friedenszeichen und Bündnis-Grüne) erklärte dazu: „Im Mittelpunkt stehen uns zur Zeit zu sehr nur die Opfer des Krieges. Wir denken, daß zu wenig nach den Ursachen dieses verbrecherischen, faschistischen Krieges geforscht wird“. Deserteure bezeichnete sie als „Menschen, die ,Nein‘ gesagt haben zu diesem Krieg“. Viele von ihnen hätten diesen Schritt mit dem Leben bezahlt. „Auch Hagener haben desertiert und dafür mit ihrem Leben gezahlt. Einige wurden in der Donnerkuhle verscharrt.“
Das Projekt war in Hagen sehr umstritten und wurde mehrheitlich abgelehnt. In Leserbriefen sowie Anträgen und Schreiben an den Oberbürgermeister Dietmar Thieser (SPD) wurde verlangt, die Errichtung des Denkmals zu verhindern.
Die Hagener Abteilung des Verbandes der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermißtenangehörigen forderte die Ablehnung des Antrags:
„Die Handlung eines Deserteurs ist in jedem Fall ein Verrat an seinen Kameraden gewesen. Jeder Deserteur wird, nach dem er zum Feind überlaufen ist, dort eingehendst verhört. […] Die Folgen dieses Verrats waren immer opfer- und verlustreich für die in dem betreffendem Frontabschnitt liegenden Einheiten. Leute, die so gehandelt haben, sollen nicht durch ein „Mahnmal“ für ihren Verrat ,erhöht‘ werden.“
„Die Aufstellung dieses Denkmals wäre ein Schlag in das Gesicht jeder Frau, deren Sohn oder Mann nicht wiederkam, weil er seine Pflicht erfüllte. Ein Schlag in das Gesicht jedes Soldaten, nicht nur der Deutschen“, meinte ein weiterer Bürger in einem Leserbrief. Desertion sei ein ganz marginales Phänomen in der Wehrmacht gewesen. Ein Denkmal würde die Meinung bestätigen, Soldaten seien „potentielle Mörder“.
Soldaten und ihre Angehörigen seien auch Wähler, warnte ein Leser die SPD.
Auch die Junge Union Hagen nahm Stellung: „Deserteure sind keine Menschen, die ein ehrendes Gedenken verdienen: Sie sind feige, egoistisch, oft gewalttätig, gewissenlos.“
Ein Großteil der Deserteure seien vorbestrafte Verbrecher, wurde in einem weiteren Leserbrief behauptet.
Die Reaktionen auf die Denkmalinitiative waren aber nicht nur ablehnend. Auch Befürworter des Projekts meldeten sich in Leserbriefen zu Wort, darunter Dr. Kingreen, Vorsitzender des Vereins Friedenszeichen:
„Das Mahnmal des ‚Hagener Friedenszeichen‘ will die Deserteure nicht zu Helden machen. Es scheint uns aber dringend geboten zu sein, der Deserteure genauso zu gedenken wie der vergasten Juden, der zerfetzten Soldaten, der verbrannten Menschen in den Städten und all der anderen Opfer dieses von unserem Land in verbrecherischer Weise angezettelten Krieges.“
Der Hagener Stadtrat musste schließlich eine Entscheidung über die Errichtung des Deserteursdenkmals treffen. Die SPD war gespalten. Das Wort „Deserteure“ sollte in der Inschrift vermieden werden, um die Gefühle der Kriegsveteranen nicht zu verletzen.
Oberbürgermeister Thieser sprach sich gegen das Mahnmal aus:
„Ein Denkmal für die Zwangsarbeiter gibt es bereits. ,Die‘ Deserteure gibt es so nicht. Da muß differenziert werden, das geht aber nicht mit einem Mahnmal. Wir brauchen so etwas nicht. Viele würden sich beleidigt fühlen.“
Bei der entscheidenden, stürmischen Ratssitzung am 26. März 1998 versuchte Frau Kingreen (Die Grünen), die Bedenken gegen das Denkmals zu beseitigen.
„Nicht alle deutschen Deserteure des 2. Weltkrieges waren Helden. Aber sie sind unter Anlegung rechtsstaatlicher Maßstäbe zu Unrecht zum Tode verurteilt und hingerichtet worden.“
Die Errichtung des Denkmals auf städtischem Gelände wurde mit den Stimmen der CDU und einem Großteil der SPD mit klarer Mehrheit abgelehnt. Thieser zeigte sich offen für ein zentrales Mahnmal für alle Opfer der Kriege.
Der Denkmalstreit hatte gezeigt, dass 50 Jahre nach dem Krieg die Tendenzen zur Verdrängung und Verleugnung der Vergangenheit, zur Schuldabwehr und Diffamierung der Opfer noch immer weit verbreitet waren. Die historische Aufarbeitung der Verbrechen der Wehrmachtjustiz hatte in Hagen einfach zu spät begonnen.
Im September 1998 wurde der Streit um das Hagener Denkmal fortgesetzt. Die Partei Bündnis 90-Die Grünen stellte erneut einen Antrag und begründete dies mit einer veränderten Situation. Der Antrag bezog sich auf das am 28. Mai 1998 verabschiedete Bundesgesetz, das eine partielle Rehabilitierung der Opfer der NS-Militärjustiz beinhaltete und parteiübergreifend unterstützt wurde. In der deutschen Öffentlichkeit habe ein Umdenken stattgefunden, auch in der Frage der Entschädigung der Zwangsarbeiter.
Mit ihrem Antrag wichen die Hagener Grünen von der offiziellen Linie der Parteileitung in Berlin ab: Nach der Bildung einer Regierungskoalition SPD/Grüne 1998 stoppten die Partner ihre Initiativen zur Rehabilitierung der Deserteure, die im Widerspruch zu ihren Bemühungen standen, die Beteiligung der Bundeswehr am Kosovo-Krieg zu rechtfertigen.
Der Oberbürgermeister – der inzwischen gewählte Wilfried Horn (CDU) – und der Rat lehnten am 16. Dezember 1999 das Mahnmal erneut ab, wieder mit eindeutiger Mehrheit.
Da das Mahnmal, ein Werk des Künstlers Heinz Richter, ohne die Zustimmung des Rates nicht im öffentlichen Raum aufgestellt werden durfte, wurde es schließlich am 8. Mai 2000, 55 Jahre nach Ende des Krieges, auf einem privaten Grundstück gegenüber der Synagoge eingeweiht.
Der vorstehende Text ist ein Auszug aus:
Pablo Arias Meneses:
Das kurze Leben des Eduard Dunker – Hagener Opfer der NS-Militärjustiz
Hagener Geschichtsheft Nr. 10, 144 Seiten, zahlreiche Abbildungen
Herausgeber: Hagener Geschichtsverein e. V.
1. Auflage, Hagen 2021, ISBN 978-3-00-068549-1
Nachwort: Das Thema Deserteure ist nach wie vor aktuell, im Bedarfsfall wird mit zweierlei Maß gemessen. Siehe dazu: Bundesamt für Migration lehnt Asyl für russischen Verweigerer ab
Drucken, Mailen, Facebook, Twitter:
Gefällt mir:
Like Wird geladen …