Wie im Märchen: Schwarzer Enervie-Strom wird „grün“
Es war einmal ein Ausflugsziel: Generationen von Kindern besuchten den im Hagener Stadtteil Holthausen gelegenen Märchenwald. Im Januar 2007 zerstörte der Orkan „Kyrill“ das Ensemble aus Schaukästen, in denen – Parallelen zum Hagener Stadtrat sind hier nicht beabsichtigt und wären rein zufällig – auf Knopfdruck die Figuren in Gang gesetzt werden konnten. Seitdem ist der Märchenwald geschlossen. Aber, liebe Kinder, es gibt Ersatz.
Nur zwei Kilometer entfernt in Haßley thront auf der grünen Wiese kein neuer Märchenwald, nein, es ist gleich ein ganzes Märchenschloss, dazu noch mit einer märchenhaften Adresse: „Platz der Impulse“. Eigentlich müsste es „Platz der Inkompetenz“ heißen, aber die Stadtmusikanten im Hagener Rathaus haben seinerzeit anders entschieden.
In dem Schloss residieren die Könige aus der Dynastie derer von Enervie. Und, stellt euch das einmal vor, liebe Kinder: die sind alle nackt! Nur der Hofstaat hat das noch nicht bemerkt. Und deshalb konnten die Regenten des Hauses von Enervie völlig ungestört ganz, ganz viel Blödsinn anhäufen.
Zuletzt war der Haufen so groß, dass die Geldverleiher des Landes dem Reiche Enervie keine neuen Taler mehr gaben, obwohl die Stadtmusikanten, selbst arm wie die Kirchenmäuse, für die Könige bürgen wollten. Die müssen aber dringend frisches Geld beschaffen – koste es, was es wolle.
Nun, liebe Kinder, ein beliebtes Verfahren zum Beschaffen nennt der Volksmund – und es wohnt dem Wort schon inne – „Beschaffungskriminalität“. In ihrer Not griffen die Könige zu diesem Mittel und versuchen nun, ihrem Volk schwarz für „grün“ zu verkaufen. Wie das?
Am 19. Februar schickten die Herrscher von Schloss Enervie ihren Herold hinaus in die Welt, auf das er verkünde: „Alle Kunden des Energiedienstleisters Mark-E erhalten seit Beginn des neuen Jahres 2016 „grünen Strom“. Konkret heißt das: Die gesamte Strommenge, die Mark-E an seine Kunden liefert, wurde vollständig in Anlagen produziert, die erneuerbare Energie zur Stromproduktion nutzen.“
Mark-E, liebe Kinder, ist eine der Töchter der Könige aus dem Märchenschloss. Die Töchter werden immer so stark geschminkt, dass sie wunderschön aussehen. Aber, ganz im Vertrauen, bei näherem Hinsehen sind sie potthässlich und lügen wie gedruckt.
Zum Beispiel in der Hagener Märchenzeitung. Die zitierte den Herold mit dessen ganz eigener Definition des Begriffspaars „grüner Strom“ und „gesamte Strommenge“: „Das ändere selbstverständlich nichts an der Tatsache, dass in sämtlichen Hagener Haushalten ein Mix aus Gas-, Kohle- und Atomstrom sowie regenerativen Energiequellen wie Wind, Wasserkraft und Photovoltaik an den Steckdosen ankomme, bei dem der Öko-Anteil etwa ein Drittel ausmacht.“
Seht Ihr, liebe Kinder, Ihr müsst Euren Lehrern nicht immer alles glauben, was die so den ganzen Tag erzählen. Die Könige aus dem Märchenschloss und ihr Herold wissen das besser: Eine Gesamtmenge entspricht eben nicht 100 Prozent, sondern etwa 33 Prozent. Außerdem hat es ja auch in der Hagener Märchenzeitung gestanden. Dann muss es ja stimmen!
Dieser Ansatz ist eine sehr spezielle Form der auf dem Schloss gepflegten Philosophie. Die Wissenschaft nennt diese Denkschule „Haßleyer Dialektik“. Jetzt bekommt Ihr auch eine Ahnung davon, warum die Schlossherren in eine solche Geldnot geraten konnten. Bei den Rechenkünsten!
Nun, liebe Kinder, werdet Ihr fragen: Warum greift denn der Hofstaat nicht ein? Schließlich sind darin doch auch die Abgesandten der Hagener Stadtmusikanten vertreten. Gewiss, aber die Hofschranzen verfolgen eine andere Strategie. Die der drei Affen. Und deren Prinzip lautet: Nichts sehen, nichts hören und nichts sagen.
Nichts sehen: Der Hofstaat wollte viele Jahre nicht wahrhaben, dass die Könige nur äußerlich in feinstes Linnen gehüllt waren. Dabei waren die Business-Anzüge und die Kutschen der Oberklasse, mit denen sie sich durch ihre Ländereien chauffieren ließen, nur Maskerade – in Wirklichkeit waren sie nackt.
Nichts hören: Als ein weiser Mann aus einer fernen Stadt auf den Nudistenstatus der Könige aufmerksam machen wollte, wies der Hofstaat ihm brüsk die Tür: „konfus“, „desorientiert“ und „weltfremd“ sei er. Nein, die Hofschranzen meinten nicht sich selbst, sondern den weisen Mann aus der fremden Stadt.
Nichts sagen: Die Untertanen des Reiches derer von Enervie warten dringend auf Erklärungen über das, was oben auf dem Schloss in der Vergangenheit vor sich ging und was in Zukunft werden soll. Aber die Stadtmusikanten im Hofstaat wollen nicht singen.
Die Märchenforscher, liebe Kinder, sprechen in diesem Falle von „Merkmalen einer Gesindeerzählung“: Die Stadtmusikanten entsprechen den im Dienst bei der Herrschaft alt gewordenen, abgearbeiteten und durch den Verlust an Leistungskraft nutzlos gewordenen Knechten und Mägden.
Mit ihrem Aufbruch, ihrem Zusammenhalt und Mut schaffen sie das fast Unmögliche. Sie überlisten die Bösen (die Kritiker), schaffen sich ein Heim (im Aufsichtsrat) und somit ein neues Leben (garniert mit Status, Tantiemen und Verköstigungen). Aber das Gesinde bleibt letztendlich auch in seiner vermeindlich neuen Rolle der gewohnten treu: Knechte und Mägde der Herrscher vom Märchenschloss derer von Enervie.
Und so leben sie vergnügt bis an ihr Ende.
Drucken, Mailen, Facebook, Twitter:
Gefällt mir:
Gefällt mir Wird geladen …