5600 Jahre alte Hagenerin erhält ihr Gesicht zurück
Dr. Constanze Niess mit der Gesichtsrekonstruktion und einer Nachbildung des gefundenen Schädels. Foto: Michael Kaub
Der Name der jungen Frau und die Ursache ihres frühen Todes sind nicht bekannt. Doch seit gestern (17. Juli) können wir ihr wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen. Dank moderner Gesichtsrekonstruktion erhielt die 5600 Jahre alte Hagenerin ihr Gesicht zurück.
Ihr Körper wurde in einer Höhle an einem Felsmassiv im engen Flusstal der Lenne bestattet. Von ihren Verwandten? Aus einem bestimmten Grund? Jedenfalls war die Tote in den weithin erkennbaren Kalksteinklippen des Felsmassivs nicht allein – über Jahrhunderte hinweg wurden immer wieder Verstorbene dort niedergelegt.
In der Blätterhöhle im Hagener Stadtteil Hohenlimburg entdeckten Höhlenforscher 2004 schließlich den Schädel der jungen Frau sowie zahlreiche weitere Skelettreste. Die Kriminalpolizei und Gerichtsmedizin wurden eingeschaltet. Doch schnell war klar: der Fund ist ein Fall für die Archäologen.
Seit zehn Jahren werden die Funde der Blätterhöhle von Archäologen und Naturwissenschaftlern untersucht. Bereits wenige Monate nach der Entdeckung stand das Alter der Skelettreste unter anderem der jungen Frau fest. Die C14-Labore der Universitäten zu Kiel und Oxford erbrachten eine ziemlich genaue Radiokarbon-Datierung der von ihrer Substanz sehr gut erhaltenen Knochen. Sie starb vor rund 5600 Jahren im Jungneolithikum, in der späten Jungsteinzeit.
Die ihrem Skelett wohl zugehörigen Überreste und der Schädel gaben Hinweise darauf, dass sie 17 bis 22 Jahre alt geworden war – aus heutiger Sicht ein Teenager auf der Schwelle zum Erwachsenenalter. Im Labor für Paläogenetik der Universität Mainz gelang 2013 schließlich die Entschlüsselung der in den Knochen enthaltenen DNA der jungen Frau.
Es stellte sich heraus, dass sie sich vorwiegend von Wild und Fisch ernährt hatte. Die junge Frau aus der Blätterhöhle in Hagen gehörte damit zu einer Gruppe von Menschen, die es nach der bis dahin geltenden Lehrmeinung in der Jungsteinzeit eigentlich nicht mehr geben durfte: Jäger und Sammler.
Rund 2000 Jahre vor dem Tod der jungen Frau hatte sich Europa durch die so genannte Neolithische Revolution grundlegend verändert. Ackerbau und Viehzucht sowie sesshafte Bauern in festen Siedlungen lösten damals die weitgehend mobil lebenden Jägergruppen der Mittelsteinzeit ab.
Dass noch vor 5600 Jahren im südwestfälischen Sauerland die Überreste von Wildbeuter entdeckt wurden, ist eine Sensation. Es handelte sich um die „Urbevölkerung“ Europas vor der über den Balkanraum einwandernden jungsteinzeitlichen Bauern.
Dr. Constanze Niess ist Rechtsmedizinerin in Frankfurt am Main. Sie gibt Verstorbenen ihr Gesicht zurück. Auf dem Gebiet der Gesichtsrekonstruktionen zählt sie international zu den Experten. Ihre Auftraggeber sind nicht nur Staatsanwaltschaften bei ungeklärten Todesfällen und Mord, sondern immer öfters auch Archäologen und Museen.
Constanze Niess fertigte 2014 für das LVR-Landesmuseum in Bonn die Gesichtsrekonstruktion der beiden rund 14000 Jahre alten Eiszeitjäger aus dem Doppelgrab von Oberkassel an. Auch dem vor 1400 Jahren in Morken bei Bedburg bestatteten merowingischen Mann gab Dr. Niess sein Gesicht zurück. Ihr jüngster Auftrag war die junge Frau aus der Hagener Blätterhöhle.
Am 5. September 2015 wird im LVR-Landesmuseum in Bonn die Archäologische Landesausstellung Nordrhein-Westfalen eröffnet. Der Schädel der jungen Frau aus der Blätterhöhle zählt zu den Highlights dieser Großausstellung. Dank einer großzügigen Spende der Sparda Bank in Bonn und Hagen ist es möglich, auch diesem Menschen rund 5600 Jahre nach seinem Tod das Gesicht wiederzugeben.
Gestern fand im Foyer des Kunstquartiers in Hagen die Premiere statt. Direkt aus der Werkstatt von Dr. Constanze Niess kommend, wurde die Gesichtsrekonstruktion der jungen Frau erstmalig den Medien und interessierten Bürgerinnen und Bürgern präsentiert. Beim Blick in das Gesicht des vor rund 5600 Jahren verstorbenen „Steinzeitmädchens“ werden sich viele Fragen aufdrängen, die Dr. Constanze Niess vor Ort beantwortete.
Die Gesichtsrekonstruktion wird zusammen mit dem Originalfund des Schädels vom 5. September 2015 bis zum 3. April 2016 in der Archäologischen Landesausstellung im LVR-Landesmuseum in Bonn zu sehen sein. Nach der Beendigung dieser Großausstellung verbleibt die Gesichtsrekonstruktion aufgrund der großzügigen Spende der Sparda-Bank auf Dauer im Museum Wasserschloss Werdringen in Hagen, um dort zusammen mit den Originalfunden präsentiert zu werden.
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